Donnerstag, 10. Mai 2012

WEG VON DER POLIZEI - MIAMI Stadt der Abtaucher

Uruguay, sagt Jürgen Schneider, hätten ihm seine Fluchthelfer zuerst vorgeschlagen. Der laxen Auslieferungspraxis wegen. » Aber die Vorstellung, dort in ein Gefängnis zu geraten, war mir nicht geheuer.«

Das nächste Angebot, Miami, hat ihm besser gefallen. » Vernünftiges Klima, kultiviertes Land, nicht zu teuer, und ein bisschen Englisch konnte ich auch.«

North Miami Beach, später Nachmittag. In sechs Spuren schieben sich die Autos die Küste hinauf. Am Strand entlang steht Hochhaus neben Hochhaus und zwischendurch mal eine Baustelle. An einer hängt ein Schild mit der Aufschrift »Trump Tower Miami«. Die Gegend scheint nicht billig zu sein. Es heißt, Russen und Südamerikaner hätten sich hier eingekauft. Zusammen mit wintermüden Franzosen, Deutschen, Nordamerikanern verbringen sie ihren Urlaub auf dem Streifen, der vom Strand bis zu den Steakhäusern auf der anderen Straßenseite reicht.

Die Häuserreihe wirkt so endlos, als hätte man alle Retorten-Küstenorte Spaniens neben- und übereinander gestapelt. Man fühlt sich verloren und bekommt eine Ahnung davon, was Jürgen Schneider hergezogen hat. Der wollte verloren gehen.

Fast ein Jahr lang hielt sich der Frankfurter Bauunternehmer und Kreditbetrüger, der deutschen Banken nach seiner Pleite fünf Milliarden Mark schuldig blieb, in den Alexander Towers am South Ocean Drive, Hausnummer 3505, versteckt. Das Foyer mit seinem Kronleuchter und dem Marmorboden versucht noch, repräsentativ zu sein, die Gänge tun es schon nicht mehr. Sie sind schmal und dunkel mit unzähligen Türen rechts und links. Die Maklerin schließt eine Wohnung auf: anderthalb Zimmer, 2500 Dollar im Monat, Blick auf den Parkplatz. In so einem Apartment hat das FBI Schneiders Ehefrau vor 13 Jahren verhaftet. Schneider selbst wurde kurz zuvor gefasst, als er in Miamis Innenstadt eine deutsche Zeitung kaufen wollte. » Oh, really?«, fragt die Maklerin. Die Floskel, mit der Amerikaner bemänteln, was sie nicht wussten und auch nicht wissen wollen.

Miami hat offenbar ein kurzes Gedächtnis. Wahrscheinlich sind es einfach zu viele, die hierher kommen, weil sie anderswo auf der Welt verschwinden müssen: europäische Steuerflüchtlinge, lateinamerikanische Putschisten, venezolanische Industrielle auf der Flucht vor Hugo Chávez Auch wer nur die Medien auf den Fersen hat, fühlt sich hier sicherer als zu Hause. Christoph Daum setzte sich ins Flugzeug nach Miami, nachdem eine Haaranalyse das Gerücht um seinen Kokainkonsum erhärtet hatte. Barbara Becker saß den Paparazzi-Ansturm nach ihrer Trennung von Boris Becker auf der Insel Fisher Island vor Miami aus.

Die Mischung aus totalem Tourismus, vitaler Halbwelt und politischen Flüchtlingen mache Miami zum »idealen Versteck«, sagt die Schriftstellerin Elaine Viets, deren Florida-Krimis in den USA Bestseller sind. Diese Gesellschaft habe keine Wurzeln. Die Frage, woher einer stamme, gelte als unhöflich. » Die Menschen kommen, um sich neu zu erfinden.«

Jürgen Schneider gab sich als deutscher Rentner aus, der einen Schicksalsschlag verkraften müsse und deshalb seine Ruhe brauche. Er setzte sein Toupet ab und ließ sich einen Bart wachsen. » Genauso sehe ich noch heute aus«, sagt Schneider, mittlerweile echter Rentner in München. In dem knappen Jahr, in dem er sich in Miami versteckt hielt, habe er die meiste Zeit am Strand verbracht, erzählt er. Morgens und abends ging er spazieren, schwamm oder guckte aufs Meer hinaus. Den Pool, die Steakhäuser und das Art-déco-Viertel im Süden von Miami Beach, das die Reiseführer empfehlen, mied er. Auf den zweiten Blick hätte ihn doch jemand erkennen können. » Ich lebte zurückgezogen, aber nicht in Angst.«

Es ist ein starker Kontrast: Das große Rad, das er einst drehte, und das kleine, zudem um alle Touristenattraktionen beraubte Touristenleben auf unabsehbare Zeit. » Ich habe mich nicht gelangweilt«, sagt Schneider. » Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken.«

Flüchtige sind keine anspruchsvollen Gäste. Warm soll es sein. Doch ansonsten sind sie zufrieden, wenn eine Stadt sich nicht um sie kümmert. Und Miami kümmert sich besonders wenig.

Im Großraum Miami leben fünf Millionen Menschen. Wegen ihres Reichtums wird die Gegend auch Goldküste genannt. Von Süden nach Norden führt die Interstate 1 hindurch, eine mit Malls und Motels gesäumte Hauptverkehrsstraße, die man langweilig nennen muss es sei denn, man kennt ihre Geschichten.

Im südlichen Vorort Kendall mit seinen vielen Golfplätzen hat sich der ehemalige Footballspieler O. J. Simpson niedergelassen, nachdem er vom Mord an seiner Frau freigesprochen worden war. Fährt man weiter stadteinwärts, wechselt die Sprache der Reklametafeln ins Spanische.

Man erreicht die vor allem von Latinos bewohnte Kernstadt, in der nach jedem Umsturz in Lateinamerika Gegner des neuen Regimes stranden.

Ihnen folgen genauso regelmäßig die Agenten dieser neuen Regimes, um zu verhindern, dass von Miami aus eine Konterrevolution angezettelt wird.

Die teuren Apartmenthäuser des Jockey Clubs schotten sich stadtauswärts mit einem massiven Messingtor gegen die Interstate 1 ab.

Der Gangsterboss Meyer Lansky soll hier seine letzten Jahre verbracht haben. Noch ein paar Meilen weiter nördlich, in den billigen ebenerdigen Motels von Hollywood Beach, bereiteten die Terroristen Mohammed Atta und Marwan al-Shehhi die Anschläge des 11. September vor. Atta hat sogar bei Kinkos, gleich um die Ecke, sein Ticket für den Flug gebucht, den er ins Wold Trade Center lenkte.

Die Goldküste endet in Palm Beach. Hier ist sie am teuersten. Die Fords und die Kennedys ließen hier Winterhäuser bauen. Gary McDaniel steht vor seinem grauen Buick, den er am Strand geparkt hat, und sucht in seinen Taschen nach Münzen für die Parkuhr. McDaniel ist von Beruf Privatdetektiv. Er trägt ein Hawaii-Hemd wie der Fernsehdetektiv Magnum, wirkt aber ansonsten mit seiner Brille und den grauen, kurzen Haaren sehr seriös.

Er hatte in seinen 31 Berufsjahren oft mit Deutschen zu tun: Seien es Kollegen, wie ein paar ehemalige Stasi-Offiziere, oder Klienten, wie ein Münchner Kreditbetrüger. Einmal engagierte ihn eine jüdische Organisation, deren Namen er nicht nennen will, um einen deutschen Kriegsverbrecher ausfindig zu machen. Er spürte den Mann schließlich im Nachbarort Boca Raton auf, wo er ein Bauunternehmen besaß. » Er war dann weg. Das Geschäft wurde verkauft«, sagt Gary McDaniel. » Ich habe nicht gefragt, was sie mit ihm gemacht haben.«

Gerade Deutsche setzten sich gern nach Südflorida ab, sagt McDaniel, weil die Community groß, aber locker sei. » Nicht so eng wie bei den Finnen oder Schweden, die sich gegenseitig kontrollieren.« Das Bundeskriminalamt hatte sogar mal einen eigenen V-Mann, um flüchtige Straftäter aufzugreifen. Er hieß Helmut Gröbe und hatte einen Biergarten an der Collins Avenue.

Gröbe wurde zu McDaniels spannendstem Fall. » Er hat der Polizei Bescheid gegeben, dann seinen Opfern Drogen untergeschoben und die Belohnung kassiert.« Zehn Jahre lang ermittelte McDaniel und fand heraus, dass Gröbe mit seinen fragwürdigen Methoden nicht nur für das BKA, sondern auch die US-Drogenpolizei arbeitete. In Deutschland befasste sich Ende der neunziger Jahre sogar mal ein Bundestagsausschuss mit dem Fall Gröbe - in den USA wird gerade gegen seinen Führungsoffizier bei der Drogenpolizei ermittelt. Gröbe selbst aber lebt noch immer unbehelligt in Miami Beach.

Gröbe, der in deutschem Auftrag Licht in die Halbwelt von Miami bringen sollte, profitiert davon, dass der Polizei in Miami Ausländer »ein bisschen wurscht« seien, wie sein ehemaliger Münchner Anwalt Roland Hasl sagt. Auch die Medien zeigen kein besonderes Interesse an ausländischen Skandalen. Der Fall Daum war dem Miami Herald nur eine ironische Meldung wert: »Der designierte deutsche Nationaltrainer ist in den Sunshine State geflohen, wohin auch sonst.«

Die eigenen Landsleute allerdings sind nicht so leicht abzuschütteln.

Hinter Daum und auch hinter Barbara Becker reisten Dutzende deutsche Reporter her. Daum floh vor ihnen quer durch Florida, er wechselte in der ersten Woche gleich fünfmal den Ort. Barbara Becker dagegen verkroch sich tief in ihrem Bau auf der Privatinsel Fisher Island, um die sich das Meer legt wie ein Burggraben.

Auf die Insel kommt man nur mit der Fähre. Die Anlegestelle liegt im Süden von Miami Beach. Ein muskulöser Riese geht mit einem Handcomputer von Wagen zu Wagen. Nur wer auf seiner Liste steht, darf an Bord. Zehn Minuten geht es durch den Hafen von Miami, dann ist man da. Vier- bis sechsstöckige Apartmenthäuser säumen das Ufer, alle im selben mediterranen Stil mit Rundbögen und schmiedeeisernen Balkongittern. Die Bewohner, 1100 sind es, fast ausschließlich Millionäre, fahren mit Golfkarts umher. Der Sand am Strand stammt von den Bahamas, der Manager des einzigen Hotels aus Osterode im Harz. Er heißt Heiko Dobrikow, lebt aber schon so lange in den USA, dass er jeden Satz mit »Wie sagt man?« beginnt.

Dobrikow erzählt von Stars, die »ganz sie selbst sein« können, und von Party People, die sich unablässig gegenseitig einladen. Niemals, sagt er, habe es ein Paparazzo nach Fisher Island geschafft. Trotzdem war Barbara Becker in den Wochen nach ihrer Trennung auf unzähligen Filmen. Doch die stammten von Überwachungskameras. Fisher Island ist eine Hochsicherheitsinsel mit einem Sicherheitsdienst von 60 Mitarbeitern und einem Infrarotsystem, das Fremde aufspürt. » Bill Clinton meinte mal, Fisher Island sei besser bewacht als Fort Knox«, sagt Dobrikow, merklich stolz.

Auf der Nachbarinsel Star Island sind Fotografen dagegen willkommen.

Es gibt nämlich auch Menschen, die in die Öffentlichkeit flüchten. Zum Beispiel Thomas Kramer, ehemals deutscher Pleitier, der die Insel in den neunziger Jahren in Luxusgrundstücke aufteilte und heute selbst darauf wohnt. Kramer lässt auf seinen Partys sogar Bilder machen und verkauft sie für vier Dollar das Stück im Internet.

Kramer trägt ein Poloshirt in Türkis und Socken in Orange, als er die Besucherin in seiner Villa empfängt. An der Wand seines Wohnzimmers hängt ein ausgestopfter Giraffenhals, Tischdekoration sind zwei tönerne Ferkel, die auf dem Rücken liegen und die Beine spreizen. Vor etwa zwanzig Jahren ist er in die USA gekommen, pleite, wie gesagt, jedoch mit einem Schwiegervater, der Geld zu viel hatte. Der Gelddrucker Siegfried Otto, Stiefvater von Kramers damaliger Frau, vertraute ihm 179 Millionen Mark an. Die stammten laut Park Avenue von Schweizer Konten, von denen die deutschen Steuerbehörden nichts gewusst hätten. Kramer habe sich angeboten, sie anzulegen.

Es klingt nach einer Mischung aus Schwarzgeld und großem Ego, aus der in Miami Karrieren gemacht sind. In den nächsten Jahren kaufte Kramer ganze Straßenzüge südlich des Art-déco-Viertels in Miami Beach auf, damals eine schlechte Ecke. In Miami nannten sie ihn »Prince of Cash«, weil er selbst Millionenbeträge in bar gezahlt haben soll. Kramer will nicht sagen, ob es Ottos Geld war. Lieber lädt er ein zur Besichtigungstour. Er fährt über die Brücke, die Star Island mit Miami Beach verbindet und kaum breiter als sein Range Rover ist. Beim Jachthafen biegt er rechts ab. Hier beginnt »TK-Land«, Thomas-Kramer-Land, wie er es nennt: ein halbes Dutzend Hochhäuser, die entlang des Meeres emporragen. » Ich habe meinen ersten Turm mitten in den Slum gesetzt«, sagt er, »und jetzt ist es die teuerste Gegend.«

Kramer parkt vor einem Restaurant, begrüßt zwei Gäste mit »I love you, baby!« und bestellt sich eine Flasche Rosé. » Bei uns wird nicht gelitten, bei uns wird gefeiert«, sagt er und fängt schallend an zu lachen.


Ein tropisch-warmer Abend in Miami South Beach beginnt. Die Bürgersteige füllen sich mit Menschen. Man weiß nie, wer sie wirklich sind. Das macht den Reiz der Stadt aus. Der Mann mit der Ray-Ban-Brille zum Beispiel, der sich an der Ampel eine Zigarette anzündet es könnte ein lateinamerikanischer Guerillero sein, ein französischer Betrüger oder ein brasilianischer Telenovela-Star, der sich gerade scheiden lässt. Oder ein Deutscher auf der Flucht.

Quelle:  http://www.zeit.de/2008/11/Stadt_der_Abtaucher

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